Orientierungslosigkeit und Verunsicherung
Unser Umfeld verändert sich rasant. Vor 50 Jahren waren unsere gesellschaftlichen Werte noch stark christlich geprägt, heute sind sie von individueller Freiheit bestimmt. Das „Ich“ steht im Mittelpunkt, nicht mehr das „Wir“. Die traditionelle Ehe verliert in vielen Kreisen an Bedeutung, Hierarchien werden zunehmend abgelehnt. Die Informationsflut ist massiv gewachsen, und anstelle von Gesprächen holen sich viele ihre Informationen aus dem Internet. Eigenständiges Denken tritt hinter dem blossen Nachahmen zurück. Der Mensch sucht Orientierung und Sicherheit in einer immer volatileren Welt.
Beschleunigung als Überforderung
Auch die Zeit scheint sich zu beschleunigen. Technische Hilfsmittel helfen zwar, doch durch ihre universelle Nutzung wird jeder schneller. Der innere Mensch kommt jedoch nicht mit. Immer mehr Menschen benötigen psychische Unterstützung, und obwohl die Corona-Krise kurzzeitig eine Entschleunigung brachte, ist dieser Effekt längst wieder verschwunden. Mit der zunehmenden Rolle von Künstlicher Intelligenz wird sich die Welt noch schneller drehen. In der Wirtschaft spricht man von Agilität als Antwort auf die VUKA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität, Ambiguität). Dazu kommt der Krieg in Europa, der die globale Unsicherheit verstärkt. Wir werden zunehmend zu einer BANI-Welt (Brittle (brüchig); Anxious (ängstlich); Non-Linear (nicht-linear); Incomprehensible (unverständlich).
Auf der Suche nach Orientierung
Als Christen reagieren wir unterschiedlich auf diese Veränderungen. Einige sehen die gegenwärtige Zeit als Phase der Endzeit und prophezeien, was uns erwartet. Doch in den letzten 50 Jahren gab es immer wieder solche Deutungen. Viele leben heute in Angst vor der Zukunft, verunsichert von Fake News und der Frage, was noch wahr ist. Der Mensch sehnt sich nach echter Orientierung. Wie finden wir eine Life-Balance?
Unser Gehirn versucht, die Informationsflut zu bewältigen, indem es die Komplexität durch Modelle reduziert. Ein Modell ist der Versuch, vielfältige Dinge vereinfacht darzustellen, indem Grundsätzliches betont und Details vernachlässigt werden. So kann zum Beispiel ein Lehrer einen komplizierten Vorgang derart vereinfacht darlegen, dass die Schüler den Vorgang einigermassen begreifen können. In Modellen denken zu können hilft, den Lebensweg sehen zu können. Doch diese Vereinfachung führt zu einer einseitigen Wahrnehmung der Realität. In der Theologie geschieht das zum Beispiel durch Modelle, die komplexe Themen auf wesentliche Punkte verkürzen. Doch je mehr wir über das Heilshandeln Gottes lernen, desto klarer wird, dass die Realität viel komplexer ist. Im besten Fall lernt man dazu, oder aber man resigniert, weil das Leben nicht aufgeht. Das kann sogar zum Zerbruch des eigenen Gottesbildes führen. Gott wirkt nicht so, wie man sich das vorgestellt hat. Man wurde Modell gläubig. Statt das ganze komplexe Gebilde zu sehen, baute man sich einen eigenen gangbaren Weg, der auf vereinfachten Informationen besteht. Das führt zu Spannungen unter uns Menschen, da jeder sein selbst zusammengestelltes Modell glaubt.
Herausforderungen begegnen
All diese Überforderungen können zu Apathie und einem Rückgang der Leistungsfähigkeit führen. Das Selbstwertgefühl sinkt, wenn wir unsere Leistung nicht mehr als ausreichend empfinden. Doch es gibt verschiedene Bewältigungsstrategien: Einige reagieren mit Rebellion, andere flüchten in Scheinwelten, oder passen sich an, ohne ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Diese Muster, oft aus der Kindheit übernommen, wiederholen sich in unserer komplexen, schnellen Welt und führen zu negativen Gefühlen, die uns erdrücken.
Die Bewältigung dieser inneren Konflikte erfordert mehr als blosse Flucht oder Anpassung. Als Christen haben wir durch unseren Glauben eine Stabilität, die uns hilft, mit den Herausforderungen der Zeit umzugehen. Doch der Mensch besteht nicht nur aus dem Geist, sondern auch aus der Seele (1. Thess 5,23). Es ist wichtig, uns bewusst zu werden, welche Muster uns prägen und wie wir auf Herausforderungen reagieren. Nur wenn wir diese Muster erkennen, können wir neue Handlungsoptionen entwickeln und innerlich stark bleiben.
Heilung und Widerstandsfähigkeit
Oft sehen wir unsere eigenen Triggerpunkte nicht. Doch durch die heilende Gemeinschaft mit anderen und professionelle Beratung können wir diese blinden Flecken erkennen und uns selbst besser verstehen. Dies ist ein wichtiger Schritt, um als starke Persönlichkeit zu wachsen und angemessen auf die Herausforderungen der heutigen Zeit zu reagieren. Ein einmaliges Gebet wird uns nicht automatisch verändern, aber die kontinuierliche Reflexion und Arbeit an uns selbst führt zur Heilung und Stabilität. Gott möchte uns bis ins Innerste heilen und uns zu einer ausgewogenen Persönlichkeit führen. Dies erfordert Selbstreflexion und die Bereitschaft, an uns zu arbeiten. Nur so können wir zu einem Leben in Balance finden und auch anderen Stabilität bieten.
Versuche, vermehrt im „Hier und Jetzt“ zu leben. „Jetzt“ bedeutet einerseits, sich nicht ständig als Opfer der Vergangenheit zu fühlen. Gedanken wie „Wie schwer hatte ich es!“ oder „Hätte ich dies nur anders gemacht!“ mögen nachvollziehbar sein, doch sie führen dazu, dass wir negative Gefühle immer wieder neu erleben. Akzeptiere, dass die Vergangenheit so war, wie sie war (Phil 3,13b). Gott hätte es anders führen können, aber er hat es nicht getan.
Andererseits bedeutet das Leben im „Jetzt“ auch, sich nicht von der permanenten Angst vor der Zukunft leiten zu lassen. Angst verändert die Situation nicht. Auch Jesus mahnte uns, uns nicht um das Morgen zu sorgen (Mt 6,34). Nur im „Jetzt“ hast du die Möglichkeit, aktiv zu handeln und Dinge zu verändern.
Zusätzlich ist es wichtig, das „Hier“ zu betrachten. Jede Erweiterung unseres Schöpfungszustands durch technische Errungenschaften kann uns von uns selbst entfremden. Ständig auf Reisen zu sein, oder uns die weite Welt über das Internet zu holen, nimmt uns die Verbundenheit zur unmittelbaren Umgebung. Auch das in sich versenken und sich entleeren wollen durch Kasteiung oder bestimmten Übungen hält uns nicht im „Hier“. Lebe dein Leben bewusster, in der Art und Weise, wie Gott dich geschaffen hat, und orientiere dich an ihm (Kol 3,1).
Florian Sondheimer